Der Rat der Ratten
Die Mäuse in der Stadt liebten die Scheune des Bäckermeisters Semmelreich sehr, denn dort fanden sie Kömer, Mehl und Zucker in Hülle und Fülle. Auch war die Backstube nicht weit von der Scheune entfernt, und die fleißigen Mäuschen hatten sich so manchen Zugang zu diesem verlockenden Raum genagt.
Der Bäckermeister Semmelreich hingegen liebte seine kleinen, freßfröhlichen Gäste gar nicht so sehr, denn er konnte die vielen angenagten Brote und Kuchen nicht mehr verkaufen. Um seine anhänglichen Plagegeister loszuwerden, schaffte er sich zwei Katzen an, welche den ungebetenen Eindringlingen ein elendes Leben bereiteten. Mit wahrer Leidenschaft jagten sie die kleinen Diebe. Viele von ihnen fanden den Tod, und die meisten, die sich retten konnten, verließen schleunigst Semmelreichs Brotparadies.
Einige Mäuse aber wollten das unerschöpfliche Körner- und Kuchenreich nicht kampflos aufgeben. Sie versteckten sich gut und ersannen immer wieder neue Tricks, um an die Nahrung heranzukommen.
Einmal hatten freche Buben die beiden Katzen eingefangen, und die Mäuse konnten sich wieder frei bewegen. Sie erkannten die günstige Gelegenheit und nutzten die Zeit. Eine Versammlung wurde veranstaltet, auf der über die beiden grimmigen Jäger beraten werden sollte.
Das älteste Mäuschen stellte sich auf seine Hinterbeine und sprach in ernstem Ton: „Die beiden Katzen vermauern uns unser sonst so süßes Leben. Laßt uns gründlich überlegen, wie wir uns von ihnen befreien oder wenigstens die Gefahr vermindern können.“
Alle Mäuse dachten angestrengt nach und zergrübelten sich ihr Mäusehirn. Sie machten vielerlei Vorschläge und verwarfen sie dann nach reiflicher Prüfung doch wieder. Lange hockten sie so beisammen.
Da sprang ein junger Mäuserich auf und trompetete mit seinem Piepsstimmchen: „Ich hab’s, ich weiß, wie wir mit diesen gemeinen Leisetretern fertig werden.“
Gespannt schauten alle auf. „Es ist ganz einfach! Denkt an den Hund des Bäckermeisters, der ein Halsband mit Schellen trägt. Wir binden den beiden Katzen eine Glocke um den Hals, dann können sie uns nicht mehr überraschen, und wir hören immer, wann sie nahen und können uns rechtzeitig in Sicherheit bringen.“
Brausender Beifall brach los, und mit stürmischer Begeisterung wurde der Vorschlag angenommen. Sofort wurden zwei mutige Mäuschen in den Keller geschickt, denn man hatte dort einmal eine Schachtel entdeckt, in der der Bäckermeister Semmelreich ein altes Halsband von seinem Hund aufbewahrte. Von diesem sollten die beiden wackeren Mäuse zwei Glöckchen abnagen und herbeibringen. Ein dritter tapferer Mäuserich bot freiwillig an, aus der Backstube zwei Bänder zu besorgen.
Während die drei Helden unterwegs waren, feierten die anderen Mäuse den klugen Mäuseknirps. Sie konnten ihn nicht genug loben, und bald waren sich alle darin einig, daß es nie zuvor einen so weisen Mäuserich gegeben hatte, und daß man ihn mit hohen Ehren auszeichnen müßte.
Gerade hatte man beschlossen, ihm den großen Brezel-Orden zu verleihen, da hörte man ein Gebimmel, und die beiden Mäuse zerrten die Glocken herbei. Gleich darauf kam auch die dritte Maus zurück und zog einen langen Strick hinter sich her. „Der genügt für beide“, meinte sie und zerbiß ihn in der Mitte.
Der Mäuseälteste hatte die ganze Zeit über geschwiegen und düster vor sich hingestarrt. Er hatte in seinem Leben schon so viele böse Erfahrungen gemacht, daß er ein mißtrauischer, verschlossener Tropf geworden war.
„Klug ist unser kleiner Held“, raunzte er, „das ist nicht zu bezweifeln. Er ist der weiseste von uns allen und wird uns bestimmt jetzt noch verraten, wie er diese Warnsignale den beiden großen Jägern um den Hals bindet.“
„Wieso ich?“ prustete der kleine Wicht aufgebracht. „Ich hatte bereits eine Idee. jetzt seid ihr an der Reihe. Strengt euch auch einmal an.“
Da erhob sich ein wildes Gezeter, und alle schrien durcheinander: „Ich habe ein Glöckchen besorgt!“ – „Ich auch!“ – „Ich habe den Strick gemopst.“ – „Ich bin doch nicht lebensmüde!“ – „Ich auch nicht.“ – „Das ist zu gefährlich!“ „Viel zu gefährlich!“
Der kleine Prahlhans zog sich aber verlegen in seinen Schlupfwinkel zurück.
„Paßt auf, die Katzen!“ rief auf einmal einer, und die Versammlung stob auseinander. „Leeres Gerede“, brummte der Mäuseälteste und zog ein Mäusekind am Schwanz in sein Nest, das in der Aufregung sein Loch nicht finden konnte und einer Katze fast in die Fänge gelaufen wäre, „was nützen die klügsten Worte, wenn man sie nicht in die Tat umsetzen kann.“
Jean de La Fontaine